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Infrastruktur

Ein Signal geht um die Welt: Registrierung von Erdbeben mit Seekabeln

16. Juli 2020
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Valey Kamalov

Google Global Networking

Mattia Cantono

Network Architect, Optical, Google Cloud

Lassen sich Erdbeben über Seekabel erfassen? Wir halten es für möglich. Ein vor Kurzem durchgeführtes Experiment mit einem unserer Glasfaserseekabel ergab, dass diese für die weltweiten Erdbeben- und Tsunami-Warnsysteme hilfreich sein könnten. 

Glasfasern werden schon lange in Sensoren eingesetzt. Die meisten Methoden funktionieren jedoch nur über Entfernungen von bis zu 100 km. Wir haben nun ein Verfahren entwickelt, das auch über Zehntausende Kilometer hinweg funktioniert. Im Gegensatz zu früheren Ansätzen, für die spezielle Sensorfasern und Geräte nötig waren, verwenden wir vorhandene Technik, um Störungen auf dem Meeresboden zu erkennen. Diese basiert zudem auf Ausrüstung, die in den meisten bestehenden Glasfasersystemen weltweit bereits enthalten ist, und ist somit allgemein nutzbar.

Unter der Meeresoberfläche verlegte Glasfaserkabel verbinden die Kontinente miteinander. Ein Großteil des internationalen Internettraffics fließt durch sie hindurch. Dank des globalen Netzwerks aus Seekabeln von Google lassen sich Informationen auf der ganzen Welt mit Lichtgeschwindigkeit teilen, suchen, senden und empfangen. Die Kabel bestehen aus Glasfasern, welche Daten als Lichtimpulse mit einer Geschwindigkeit von 204.190 Kilometern pro Sekunde transportieren. Bei seiner Reise durch die viele Tausend Kilometer langen Kabel wird das Licht verzerrt. Auf der Empfängerseite werden die Lichtimpulse erkannt und die Verzerrungen durch die digitale Signalverarbeitung korrigiert. Eine der Eigenschaften des Lichts, die im Rahmen der optischen Übertragung aufgezeichnet wird, ist der Polarisationszustand (State of Polarization, SOP). Dieser ändert sich als Reaktion auf mechanische Störungen im Kabel und durch die Beobachtung dieser Störungen können wir seismische Aktivitäten erkennen.   

Im Jahr 2013 überlegten wir, wie wir anhand von SOP-Daten mehr Informationen über Abweichungen in einem Landkabel erhalten könnten. Häufig auftretende Faktoren in der Umgebung verursachten jedoch zu viele Störungen, um seismische Signaturen zu erkennen, daher verfolgten wir das Projekt nicht weiter. 2018 veröffentlichten Wissenschaftler eine Arbeit über ihre ersten Erfolge bei der Registrierung von Erdbeben mithilfe von Land- und Seekabeln. Sie nutzten einen schmalbandigen, ultragenauen Laser, um Phasenwechsel zu beobachten. Die verwendeten Kabel waren jedoch kurz (weniger als 535 km bei Land- und 96 km bei Seekabeln) und befanden sich in relativ flachem Wasser (~ 200 m tief), wodurch die praktische Anwendung dieser Idee beschränkt war. Für Tests unter realen Bedingungen hätten sie Kabel in größerer Tiefe und über weitere Entfernungen verwenden müssen. 

Wir haben dieses wissenschaftliche Paper mit großem Interesse gelesen und überlegten, was wir zur Erfassung seismischer Daten über Seekabel beitragen könnten. Letzten Oktober kam uns dann die zündende Idee: Wir könnten Erdbeben mithilfe spektraler Signaturen registrieren. Durch eine Spektralanalyse der Stokes-Parameter ließen sich für Erdbeben typische Frequenzen beobachten.

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Notizbuch des Autors, in dem er erste Ideen zur Implementierung des Systems festhielt

Erste Tests

Ende 2019 begannen wir mit dem Monitoring des Polarisationszustands in einigen unserer Seekabel. Während des ersten Feldversuchs stellten wir fest, dass der SOP erstaunlich stabil ist, sogar nachdem das Signal eine Strecke von 10.500 km zurückgelegt hatte. Der Meeresgrund ist im Wesentlichen ein sehr ruhiger Ort. 

Möglicherweise war er sogar einige Wochen lang zu ruhig. Wir konnten keine SOP-Veränderungen aufzeichnen, die auf ein Erdbeben hingedeutet hätten. Am 28. Januar 2020 jedoch registrierten wir ein Erdbeben der Stärke 7,7 nahe Jamaika – 1.500 km vom nächstgelegenen Seekabel entfernt! Die grafische Darstellung des Polarisationszustands im Zeitverlauf zeigte ca. fünf Minuten nach dem Beben einen deutlichen Ausschlag. Dies entsprach der Zeit, die die seismische Welle von Jamaika bis zu unserem Kabel brauchte. Die Dauer des Ausschlags betrug etwa zehn Minuten.

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Von dem Erdbeben der Stärke 7,7 vor Jamaika ausgelöste Stokes-Vektoren S1 (links), S2 (Mitte) und S3 (rechts), die eine quantitative Analyse des Polarisationszustands (SOP) ermöglichen. X-Achse (Zeit), Y-Achse (Frequenz in Hertz), Farbcode zeigt die Intensität der Spektralanteile. Grün deutet auf eine höhere Spektraldichte hin als weiß und rosa. Das Erdbeben ist der kaum erkennbare grün-weiße Ausschlag unter 0,5 Hz. Die stärkere 1-Hz-Linie wird durch Schwingungen in der Umgebung verursacht.

Wir zeigten unsere Ergebnisse Dr. Zhongwen Zhan vom California Institute of Technology Seismological Laboratory. Er bestätigte unsere Beobachtungen und erklärte uns, wie lange unterschiedliche Arten seismischer Wellen unterwegs
sind und welche Frequenzbereiche bei SOP-Abweichungen zu erwarten sind. 

In den Monaten nach dem Erdbeben bei Jamaika registrierten wir mehrere nähere und weiter entfernte schwächere Beben. Am 22. März 2020 gab es ein Erdbeben der Stärke 6,1 am ostpazifischen Rücken (einem mittelozeanischen Rücken am Grund des Pazifischen Ozeans, etwa 2.000 km von einem unserer Kabel entfernt). Wir stellten eine eindeutige SOP-Aktivität fest, wobei der zeitliche Verlauf mit Beobachtungen einer seismischen Messstation in Tlapa, Mexiko, übereinstimmte, die sich in ähnlicher Entfernung vom Epizentrum befand. Am 28. März ereignete sich ein Erdbeben der Stärke 4,5 vor der Küste von Valparaíso, Chile, nur 30 km von einem unserer Kabel entfernt. Das Ereignis verursachte einen klaren, aber kurzen Ausschlag in der Aufzeichnung der SOP-Aktivität. Die kurze Dauer lässt sich vermutlich auf ein rasches Abfallen der Intensität der Schwingungen entlang des Kabels bei diesem relativ schwachen Beben zurückführen. 

Erweiterung des weltweiten Systems zur Registrierung seismischer Aktivität

Die ersten Erfolge bei der Registrierung seismischer Ereignisse mithilfe von Seekabeln sind vielversprechend. Sie bieten eine weitere Möglichkeit, die Struktur der Erde und die Entwicklung von Erdbeben zu beobachten. Doch das ist erst der Anfang. Dr. Zhan zeigte uns anhand unserer Daten, dass wir nicht nur Erdbeben entlang der Kontinentalplatten, sondern auch Druckveränderungen im Meer selbst erkennen und somit möglicherweise Tsunamis vorhersagen können. Das ist äußerst interessant, da sich bisher die meisten Geräte zur Tsunami-Erkennung entweder an Land oder  an verschiedenen Stellen in den Ozeanen befinden. Erstere geben Gemeinden entlang der Küste nicht genügend Zeit zur Evakuierung, Letztere sind durch die Wellengeschwindigkeit begrenzt, die bei Tiefwasserwellen maximal 800 km pro Stunde beträgt. Wenn ein Kabel jedoch in der Nähe des Epizentrums verläuft, könnten möglicherweise betroffene Gemeinden durch ein Tsunami-Warnsystem, das Daten mit Lichtgeschwindigkeit übermittelt, innerhalb von Millisekunden informiert werden.

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Dieses von Dr. Zhan erstellte Bild stellt basierend auf den Daten von Google Meereswellen während der Stürme zwischen dem 25.03. und dem 13.04.2020 dar. Die X-Achse zeigt die Frequenz von 0 bis 0,16 Hz, die Y-Achse die Zeit. Die Meereswellen sind als schräge, gelbe, unscharfe Linien zu erkennen.

Unser Ansatz basiert auf einer Technologie, die in den heutigen Glasfasernetzwerken vielfach zum Einsatz kommt. Millionen Kilometer an Glasfaserkabeln umspannen bereits die Erde. Diese Netzwerke werden von Staaten, Telekommunikationsanbietern und Technologieunternehmen wie dem unseren betrieben. Durch eine Zusammenarbeit mit anderen Betreibern von Seekabeln könnte es uns gelingen, die Möglichkeiten zur Registrierung und Untersuchung seismischer Aktivitäten weltweit zu verbessern. 

Natürlich war dies nur eine erste Demonstration, kein funktionierendes System, und es bleibt noch viel zu tun. Zunächst müssen Wissenschaftler die Flut komplexer Daten, die durch das SOP-Monitoring entsteht, besser verstehen. Seismische Daten sind extrem vielschichtig. Die von unterschiedlichen Arten von Erdbeben erzeugten Wellenformen sehen sehr verschieden aus und diese Formen ändern sich abhängig von bestimmten Variablen wie Stärke, Ort usw. deutlich. Zur Erstellung eines zuverlässigen Erdbebenüberwachungssystems benötigen Wissenschaftler höhere Mathematik sowie umfangreiche Datenanalysen. Hier können fortschrittliche Computing-Systeme wie Google Cloud äußerst hilfreich sein. Vielleicht stellen sie auch fest, dass dies eine Aufgabe für Machine Learning ist, das sich besonders für die Verarbeitung großer Datasets eignet, die von Menschen nicht mehr bewältigt werden können. 

Wir betrachten diesen Ansatz nicht als Ersatz für dedizierte seismische Sensoren, sondern als Quelle ergänzender Informationen, um möglichst früh vor Erdbeben und Tsunamis zu warnen. Wir sind beeindruckt und begeistert von der Möglichkeit, mit Wissenschaftlern aus der Glasfaser-, Unterwasser- und Erdbebenforschung zusammenzuarbeiten und unsere Kabelinfrastruktur zum Wohl der Gesellschaft einzusetzen.

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